Medikament bei Nonsensemutation in Entwicklung

Medikament bei Nonsensemutation in Entwicklung

In den letzten Jahren wurde immer wieder von einem Medikament gesprochen, das für die Behandlung einer ganz bestimmten Mutationsform, nämlich der Nonsensemutation, entwickelt wird. Dieses Präparat, das zunächst unter dem Namen PTC124 bekannt wurde, heißt seit einiger Zeit Ataluren®. Die Hoffung besteht, dass dieses Präparat auch für HSP’ler, die eine solche Mutation haben, hilfreich sein könnte. Es wäre wirklich ein großer Schritt für uns, wenn diese Hoffmung zur Realität werden würde. Schließlich sind bei der HSP rund 30% der Erkrankten, also etwa jeder Dritte, von dieser Mutationsart betroffen.
Gleich zu Anfang soll hier ein grobes Missverständnis beseitigt werden. Nonsensemutationen kommen nicht nur im SPG4 vor. Sie sind in allen HSP-Genen bekannt. Diese Mutationsart ist in Deutschland vermutlich bei etwa 2.000 Personen der Auslöser der Erkrankung. Zweitausend HSP‘ ler mit einer Nonsensemutation. Das ist doch wohl Grund genug, sich mit Ataluren® intensiver zu befassen, oder????

 

Was ist eine Nonsensemutation?

Jedes gesunde Gen ist so aufgebaut, dass die Informationen, die es enthält, einzelne Bausteine sind, die abgelesen werden. Im Bild links ist erkennbar, dass immer drei Buchstaben (=chemische Basen) eine solche Informationseinheit bilden. Das ist z.B. links außen das „GUA“. Damit werden jeweils Aminosäuren beschrieben woraus dann ein Protein (=Eiweiß) gebildet wird. Im Bild ist es unten zu sehen. Dieses Protein wird innerhalb der Zelle aktiv. Um die Geninformation verarbeitbar zu machen hat jedes Gen am Anfang einen „Startbefehl“ und am Ende einen „Stoppbefehl“. Durch eine Mutation im Gen, kann einer der Bausteine so verändert werden, dass er zu einem Stoppbefehl wird. (Im Bild links ist im Gencode UGC der Buchstabe „C“ in den Buchstaben „A“ mutiert, wobei durch das UGA ein „Stopp“ entsteht). Dieser -dann zu früh platzierte- Stoppbefehl bewirkt, dass der Ablesevorgang der Geninformation bereits vorzeitig gestoppt wird. In Folge ist das gebildete Protein unvollständig und kann daher seine Aufgabe in der Zelle nicht wahrnehmen. Diese Mutationsart kommt bei vielen genetischen Erkrankungen vor. Bei der HSP ist das ein möglicher Auslöser für die HSP-Symptome. Um mehr zu den Aufgaben der Gene, zu den Mutationsformen und ganz speziell zur Nonsensemution zu erfahren, kann Informationen dazu im Aufsatz „Was machen unsere Gene. Ein paar Gedanken für Nichtmediziner nachgelesen werden, der per Klick auf den Titel abrufbar ist.
Eine kurze Begriffserklärung noch zum Wort „Nonsensemutation“. Der Wortteil Nonsense hat nichts mit dem bei uns gebräuchlichen Verständnis in Sinne von Unsinn, Blödsinn oder Spaß zu tun. Oben war beschrieben worden, dass bei einer Nonsensemutation der Stoppbefehl durch den Genfehler an einer zu frühen Position im Gencode erzeugt wird. Der Stoppbefehl liefert keine Zutat für das im Gencode beschriebene Protein; er bedeutet nur STOPP. Er macht also für die Zutaten „keinen Sinn“. Aus „kein Sinn“, also „no sense“ wurde „nonsense“. Weil der zu frühe Stoppbefehl eine Mutation ist, wurde daraus der Begriff „Nonsensemutation“ gebildet.

 

Wie arbeitet Ataluren®?

Natürlich wird das herstellende Pharmaunternehmen diese Information momentan noch nicht vollständig preisgeben. (Dazu bitte die Ergänzung unten „Aktuelles aus Sommer 2012“ beachten). Bildlich gesprochen wird durch den Wirkstoff erreicht, dass über den zu frühen Stoppbefehl eine Brücke gebaut wird, so dass er nicht abgelesen wird. Damit soll bewirkt werden, dass die Information des Gens dann wieder bis zum regulären Stoppbefehl abgelesen werden kann, das Protein also wieder alle Bestandteile bekommt, die ohne den vorzeitigen Stopp eingebaut werden. Ataluren® verändert das Gen selbst nicht, ist also keine Gentherapie. Der Wirkstoff soll bei etwa 2.400 Krankheiten einsetzbar sein. Informationen dazu sind hier über die Internetseite der Firma PTC abrufbar. (Hier die automatische Übersetzung).
Es ist zu beachten, dass der Wirkstoff ausschließlich den durch eine Mutation gebildeten Stoppbefehl erkennt und nur dort aktiv wird. Er erkennt den regulären Stoppbefehl als richtigen Teil der Geninformation und wird dort auch nicht aktiv.

Das hört sich jetzt alles ganz einfach an. Ist es natürlich nicht! Es gibt nämlich im Gencode nicht nur ein „Wort“ für den Stoppbefehl. In der Genetik wird ein Wort der Gensprache als „Codon“ bezeichnet. Wir haben gleich drei unterschiedliche Codone, die alle „Stopp“ bedeuten. Im ersten Bild oben ist als Beispiel der Stoppbefehl UGA eingestellt (Beispiel ist die Mutation von UGC auf UGA). Es gibt zudem noch die Codone UAA und UAG für den Stopp. (Um mehr zum genetischen Code zu erfahren, sind gute Information in dieser Wikipedia-Seite abrufbar). Ataluren reagiert nun auf diese drei Codone nicht gleich. Die besten Ergebnisse treten beim Code UGA auf. Dann folgen UAG und UAA. Ein weiterer wesentlicher Effekt, der die Wirksamkeit beeinflusst, ist im ersten Buchstaben des Folgecodons zu sehen. Im Bild ganz oben ist das ein G. Beginnt das Folgecodon mit dem Buchstaben C, so ist das die beste Voraussetzung für die Wirksamkeit von Ataluren. Wie stark sich solche Abweichungen in der Wirksamkeit zeigen, muss durch Tests erforscht werden.

 

Was soll das Ergebnis sein?

Falls es gelingt, dass das Protein in seiner gesunden Form hergestellt wird, könnte sich erreichen lassen, dass die Entwicklungsgeschwindigkeit der Erkrankung verlangsamt oder sogar gestoppt wird. Bereits eingetretene Schäden an den befallenen Nerven lassen sich auf diesem Weg aber vermutlich nicht wieder rückgängig machen. Falls sich mit Ataluren® ein Stopp der Krankheitsentwicklung erreichen lassen sollte, so wäre das doch schon ein großer Vorteil, der sich besonders in der Startphase der Erkrankung sehr positiv und sehr intensiv zeigen könnte. Um es an einem Beispiel darzustellen: Hätte es bei einem HSP’ler zu Beginn seiner 30 Jahre bestehenden HSP-Symtomatik ein wirksames Medikament gegeben, dann hätten sich bei dieser Personen die Symptome der HSP nicht eingestellt. Sie hätte dann wahrscheinlich ein absolut gesundes und „bewegungsreiches“ Leben führen können. Da es das Medikament vor 30 Jahren nicht gab, sitzt diese Person heute im Rollstuhl.

 

Habe ich eine Nonsensemutation?

Nonsensemutationen kommen in vielen genetisch bedingten Erkrankungen vor. In der HSP scheinen diese Mutationsformen mit einer Häufigkeit von etwa 30% sogar intensiver als bei anderen Erkrankungen vertreten zu sein. Nonsensemutationen sind nicht nur auf das SPG4 beschränkt, sondern können in der HSP bei allen SPGs auftreten. Eine Aussage, ob eine solche Mutation vorliegt, kann nur eine Gendiagnose liefern. Im Gespräch mit dem Arzt ist das zu klären. Wichtig ist es dabei festzustellen, ob eine Nonsensemutation die primäre Ursache ist, oder ob sie als Folge einer anderen Mutation eintritt. Im zweiten Fall wird der Einsatz des Medikamentes nicht erlaubt.

Falls ein genetischen Nachweis der HSP bereits vorliegt, so lässt sich mit den Daten aus diesem Nachweis leicht feststellen, ob eine Nonsensemutation vorliegt. Interessierte HSP’ler können sich mit Rudi Kleinsorge (Tel.: 07033/36353 oder E-Mail rk@gehn-mit-hsp.de) in Verbindung setzen.

 

Wie weit ist die Entwicklung des Medikamentes fortgeschritten?

Derzeit wird Ataluren® bei zwei genetischen Erkrankungen (Mukoviszidose und Muskeldystrophie Duchenne) in klinischen Studien getestet. Hier laufen aktuell Studien in der letzten Phase. Nach Auswertung der Studienergebnisse könnte im Anschluss daran die Freigabe des Medikamentes für die Krankheitsbilder erfolgen, die im Test waren. Das Präparat hat damit aber noch nicht die Zulassung für die HSP. Einige andere Krankheitsbilder befinden sich momentan in frühen klinischen Studien. Leider nicht die HSP! Bisher ist das, was Selbsthilfegruppen zu anderen Krankheitsbildern gelungen ist, nämlich Ataluren® in Studien zu testen, der HSP noch nicht gelungen. Eine mögliche Ursache dafür könnten auch die momentan fehlenden finanziellen Mittel sein. Vielleicht lässt sich Ataluren® in einiger Zeit auch bei der HSP einsetzen.

 

Aktuelles aus Sommer 2012 (Ergänzung des Beitrags)

Da die chemische Formel des Wirkstoffs PTC124 zwischenzeitlich patentiert und damit auch bekannt ist, kann der Wirkstoff nun im chemischen Labor „nachgebaut“ werden. Eine entsprechende Bezugsquelle für forschende Wissenschaftler konnte ausfindig gemacht werden. Nun müsste dieser Wirkstoff im Labor in Zellkulturen auf seine Wirkung in HSP-Zellen getestet werden. Bei einem positiven Ergebnis wäre dann im Folgeschritt die Wirksamkeit eventuell zunächst in Mausmodellen zu überprüfen. Sollte auch dieser Schritt ein positives Resultat bringen, dann ließen sich Studien am Menschen starten. Etwa 30% von uns haben vermutlich eine Nonsensemutation. Sie kann in jedem HSP-Gen auftreten.

Es gab immer wieder Gespräche mit unseren Forschern in Tübingen -auch aktuell-, die dazu dienten, die Möglichkeiten für solche Studien zu untersuchen. Den zahlreichen HSP’lern unter uns, die sich bei einer vorliegenden Nonsensemutation schon eine Hautprobe bei einem Besuch an der Uniklinik Tübingen entnehmen ließen, sei hier gedankt. Aus diesen Hautproben werden HSP-Stammzellen entwickelt, mit denen dann die zuvor beschriebenen Arbeiten an Zellkulturen gemacht werden können. Selbstverstämdlich werden die aus den Hautproben entwickelten Stammzellen so aufbereitet, dass sie sehr langfristig nutzbar und einsetzbar sind.

Bedingung ist natürlich auch immer, dass die notwendigen finanziellen Mittel gewonnen werden. Jede Spende ist da sehr hilfreich. Die Bankdaten für eine Spende sind im Kopf dieser Seite abrufbar. HSP-Betroffene dürfen sich hier selbst engagieren und müssen nicht auf andere warten. Sie können hier zeigen, dass sie es ernst nehmen mit dem Willen gesund zu werden! Und das geht nur dann, wenn jeder Einzelne aktiv wird. Das geht nur dann, wenn die Pflanze der Hoffnung gut gepflegt wird. So helfen Spender vielen HSP-Erkrankten.

Eigene Aktivität ist nämlich immer sinnvoller, als das Warten auf andere, oder? Und, ….. HSP’ler, wir können wirklich viel bewegen!! Jeder! Sie sorgen dafür, dass das Leben nicht verdurstet; sie bringen Farbe in ihre Aktivitäten!!

 

Ein bereits bekannter Wirkstoff könnte Nonsensemutationen wirkungslos machen

Nonsense-Mutationen sind der Ursprung vieler vererbter genetischen Krankheiten. Im ersten Teil oben ist beschrieben, was genau eine Nonsensemutation ist. Es wird vermutet, dass etwa 30% der HSP-Patienten eine Nonsensemutation haben, die in allen HSP-Genen vorkommen können. Für jeden, der dazu mehr wissen möchte, sei auf den Aufsatz „Was machen unsere Gene. Ein paar Gedanken für Nichtmediziner“ verwiesen, der per Klick abgerufen werden kann (dort Seiten 3 und 4).

Die Folge von Nonsense-Mutationen ist häufig die, dass aus dem mutierten Gen kein verkürztes Protein sondern gar kein Protein hergestellt wird. Da alle Gene zweifach vorhanden sind (eins von Mutter und eins von Vater) ist dann nur die Hälfte der erforderlichen Proteine aktiv. Grund dafür ist die Aktivierung eines körpereigenen Überwachungsmechanismus, der Nonsense-mediated decay (NMD) genannt wird. Als Nonsense-mediated decay wird ein Kontrollmechanismus in eukaryotischen Zellen (also in Zellen, die einen Zellkern enthalten) bezeichnet, der Nonsense-Mutationen -in der mRNA (englisch messenger RNA, auch Boten-RNA genannt) – erkennt und der verhindert, dass aus diesen mutierten Genen verkürzte Proteine entstehen. Dieser Kontrollmechanismus unseres Körpers ist auch sehr sinnvoll, weil er verhindert, dass verkürzte Proteine, die eine toxische -also eine giftige- Wirkung haben könnten, aktiv werden.

An Nonsensemutationen wird intensiv geforscht, da sie so häufig vorkommen. Neben dem oben angesprochenen Wirkstoff PTC124 (Ataluren®) haben französische Forscher nun bei einen bereits bekannten Wirkstoff entdeckt, dass er sehr gezielt die Folgen der Nonsensemutation ausschalten kann. Dieser Wirkstoff wurde bisher nicht zur Behandlung von Mutationen eingesetzt; er hat derzeit ganz andere Anwendungsgebiete. Über ein Wirkstoff-Screening-System wurden Moleküle gesucht, die das NMD blockieren können. Dann wurden drei Zelllinien von Patientenzellen mit einer Nonsense-Mutation verwendet, um die Wirkung des ausgewählten Moleküls auf die Menge der Nonsense-enthaltenden mRNAs und auf die Bildung von Proteinen aus diesen mutierten mRNAs zu studieren.

Es konnte gezeigt werden, dass Amlexanox, ein Medikament, das im Ausland seit Jahrzehnten verwendet wird, nicht nur zu einer Erhöhung der Nonsense-enthaltenden mRNAs-Menge in den behandelten Zellen führt, sondern auch die Bildung des Proteins in vollständiger Länge in einer effizienten Weise ermöglicht. Es wurde auch gezeigt, dass diese Proteine in voller Länge funktionsfähig sind.

Als Ergebnis dieser doppelten Aktivität könnte Amlexanox als Therapieansatz nützlich sein für solche Erkrankungen, die durch Nonsense-Mutationen verursacht werden.

Das ist erneut ein möglicherweise hilfreicher Forschungsansatz. Der angesprochene Wirkstoff ist in Salben enthalten, die aber in Deutschland nicht zugelassen sind. Die Salbe wäre für HSP’ler auch nicht hilfreich, da der Wirkstoff ja in die erkrankten Zellen im Gehirn gelangen müsste. Die bisherigen Studienversuche sind ausschließlich in Zellkulturen in vitro, also im Reagenzglas oder in der Petrischale, gelaufen. Sie wurden auch bisher nicht in HSP-Zellkulturen durchgeführt, sondern sind bei mutierten Zellen der Krankheitsbilder „Mukoviszidose“ und „Muskeldystrophie Duchenne“ zum Einsatz gekommen. Es lässt sich derzeit, ohne entsprechende, umfangreiche Studien, nicht beurteilen, ob der Wirkstoff bei HSP erfolgreich sein könnte. Entsprechende Forschungsvorhaben an HSP-Zellkulturen wären als ein erster Schritt also notwendig. Sollten sie positive Ergebnisse liefern, so wären dann Folgestudien in Tiermodellen ein möglicher nächster Schritt. Nur so lassen sich eventuelle Chancen erkennen und nutzbar machen. Derzeit ist das jedoch nur eine Hoffnung, aber immerhin!

Die angesprochene Arbeit der französischen Forscher ist hier abrufbar.